Mehr Fortschritt wagen. Das Branding sitzt. Die Quote nicht. Drei Männer sitzen an diesem Dienstag vor der Berliner Presse und stellen sich Fragen zum Koalitionsvertrag der „Ampel“.
Das heißt noch lange nicht, dass Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner jede Frage inhaltlich beantworten. Auch nicht die von Kristina Dunz vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Die RND-Reporterin wollte wissen, wie sich die drei Männer mit der vom designierten Bundeskanzler Scholz propagierten „Parität“ zwischen den Geschlechtern im künftigen Kabinett vertragen.
Der vierte SPD-Kanzler in spe antwortet ausweichend mit Leerformeln, wie man es seit vielen Jahren von ihm gewohnt ist. Eben die Technik, die ihm einst den Spitznamen „Scholzomat“ eintrug. Auffällig, dass er sich inzwischen eingangs für jede Frage ausdrücklich bedankt. Eine Übung, in der ihm sein künftiger Finanzminister mittlerweile folgt. Nicht so Habeck. Der schloss sich den Ausführungen Scholz’ zur Kabinettsparität unmittelbar an.
Aus „gleichstellungspolitischer Sicht ein Fortschritt“
Womöglich hat er gewusst, warum er zu diesem Thema lieber schweigt. Etwa zwei Drittel der Fragen drehte sich um außenpolitische Themen. Ukraine, North Stream 2, Olympische Winterspiele in Peking, China, Griechenland, EU. Hier wäre tatsächlich die „erste Frau“ des neuen Kabinetts, die von Habeck um den Vizekanzlerposten gebrachte grüne Ex-Kanzlerkandidatin und künftige Bundesaußenministerin Annalena Baerbock gefragt gewesen. Christian Lindner übrigens versicherte an diesem Vormittag in der Bundespressekonferenz (BPK) treuherzig auf Dunz’ Frage, dass die Koalitionsvereinbarung auch aus „gleichstellungspolitischer“ Sicht – Achtung – ein „Fortschritt“ sei.
Auch Robert Habeck hat seine romantischen Momente. Nicht nur, wenn er während deren Ausführungen als Einziger sich seinen Mit-Alphas zuwendet. Nein, auch dann, als er zwar eingesteht, dass es Zumutungen mit sich bringen werde, wenn der Energiemix innerhalb von acht Jahren auf 80 Prozent Erneuerbare umgestellt werde. Er aber zugleich klarstellt, dass sich Wachstum und Klimaschutz an dieser Stelle verbinden, er meinte wohl „versöhnen“, ließen. Dabei gewährte der Grünen-Chef sogar einen Blick in sein Innerstes. Denn das träumt offenbar von einer Weiterentwicklung der „sozialliberalen zu einer ökosozialen Marktwirtschaft“. Was da wohl Christian Lindner zu sagen würde, wenn er nicht geschwiegen hätte? Wie übrigens auch Olaf Scholz. Der aber jegliche Romantik vermissen ließ. Zum Glück möchte man sagen.
„Mehr Fortschritt wagen“ – die erste Bundesregierung mit Claim
Bevor die drei Ampel-Alphas in die BPK hinübergewechselt waren, waren sie dabei, wie die Chefverhandler:innen der Ampel-Koalition im Berliner Futurium ihren Vertrag unterzeichneten. An dieser förmlichen Veranstaltung verstörten weniger die eingeübten PR-Floskeln, die wiederum Baerbock am geschmeidigsten über die Lippen zu kommen scheinen, als vielmehr die perfekte, fast kalte Inszenierung. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik noch keine Bundesregierung gegeben, die sich derart umfassend einen Claim zu eigen gemacht hätte.
„Mehr Fortschritt wagen“ – das steht an diesem Dienstag wie schon beim Verhandlungsabschluss mitsamt rot-grün-gelbem Logo auf der Stellwand hinter den Akteuren und an jedem Rednerpult. Es steht sogar auf der Tischplatte, auf der die von den Verhandler:innen zu unterzeichnenden Verträge ausliegen. Für die Tischplatte ist eine eigene Kamera installiert, die das Unterzeichnen live von oben aus der Deckenperspektive verfolgt. Jeder Unterzeichner, jede Unterzeichnerin darf seinen beziehungsweise ihren Füllfederhalter – oder Kugelschreiber? – nach den jeweils drei Unterschriften mitnehmen. Hygiene? Inszenierung? Ein kleines Präsent? Die Unterzeichnenden jedenfalls sind aus dieser Perspektive allenfalls schemenhaft wahrzunehmen. Immer perfekt zu lesen dagegen: „Mehr Fortschritt wagen.“
Rot-grüne Ampel-Spitzen zu Gast bei Bild
Ob es ein Fort- oder eher ein Rückschritt war, dass sich mit Scholz, Habeck und Baerbock am Wochenende drei führende Ampelvertreter:innen ein Stelldichein bei Springers Bild-Spendengala „Ein Herz für Kinder“ gaben? Bei eben jener Zeitung, die an eben jenem Wochenende drei Wissenschaftler:innen in denunziatorisch zu nennender Absicht („Die Lockdown-Macher“) auf den Titel derselben hoben?
Nein, sicher kein Fortschritt. Die Frage ist rhetorisch. Denn auch am Dienstag in der Bundespressekonferenz hatten Scholz, Habeck und Lindner wieder mehr Anlass als genug, die Ideologisierung und Gewaltneigung der Impfgegner:innen zu beklagen. Fazit einen Tag, bevor der neue Kanzler vermeintlich von der Mehrheit des Bundestages ins Amt gehoben wird: Das Branding sitzt. Der Inhalt nicht. Ob das leicht, genau genommen sogar im Wording der siebziger Jahre, abgewandelte Brandt-Wort noch mit Leben gefüllt wird, ist fraglich. Natürlich.
Frank Behrens
Foto: Screenshot ARD/Phoenix Live