Zeitenwenden

Das Jahr 2022 steht seit dem 24. Februar für eine Zeitenwende in Europa. Die Stichwahl um die französische Präsidentschaft am 24. April weist die weitere Richtung.

28. Juni 1914. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie werden in Sarajewo von einem serbischen Nationalisten ermordet. Innerhalb eines Monats spitzen sich die Ereignisse zu – Historiker sprechen von der sogenannten „Julikrise“ – und münden in den Ersten Weltkrieg. Österreichische Einheiten greifen die serbische Hauptstadt Belgrad an, deutsche Truppen besetzen in einer ersten Handlung das neutrale Luxemburg. Der 28. Juni 1914, die folgende „Julikrise“ und die Konsequenzen können mit Fug und Recht als Zeitenwende bezeichnet werden, die bis heute nachwirkt.

24. Februar 2022. Russische Truppen, die seit Monaten rund um die Ukraine zusammengezogen worden waren, fallen in dem Land ein, marschieren zunächst auf Kyiv und Charkiw. Schnell ist auch hier von einer Zeitenwende die Rede, nicht zuletzt am 27. Februar seitens des Bundeskanzlers Olaf Scholz im deutschen Bundestag in Berlin.

Die Zeitenwende vom 24. Februar 2022

Die Argumentation von der Zeitenwende ist nicht von der Hand zu weisen. Denn auch der russische Überfall auf die Ukraine 2022 steht für das Ende einer europäischen Friedensordnung; im Grunde zerbröselt die Ordnung von 1945, die 1989/91 mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zerfall der Sowjetunion einer Art Update unterzogen worden war.

2022 ist klar: Russland verfolgt in seinem direkten Umfeld expansionistische Ziele, auf die Europa und der politische Westen massiv zu reagieren haben. Russland ist heute expansiver und militärisch aggressiver als es die Sowjetunion seit Stalins Tod jemals war. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Hitler-Stalin-Pakt 1939, der seinerzeit einen ähnlichen Grad an Aggression offenbarte. Es ist kein Zufall, dass das neutrale, einst mittelbar an die Sowjetunion gebundene Finnland ernsthaft erwägt, der Nato beizutreten.

Am 24. April 2022 wird über die Zukunft von EU und Nato entschieden

24. April 2022: Die Franzosen haben in der Stichwahl die Wahl zwischen dem bisherigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und seiner rechtsradikalen Herausforderin Marine Le Pen. MLP, wie die Chefin des Front National (seit 2018 Rassemblement National) in Frankreich abgekürzt wird, verspricht ihren Wählerinnen und Wählern unter anderem eine Obstruktionspolitik gegen die Europäische Union, die Abkehr von der deutsch-französischen Freundschaft und den Austritt aus der Nato.

Im ersten Wahlgang am 10. April hatten 50 Prozent der Französinnen und Franzosen einen putinfreundlichen Kandidaten oder Kandidatin gewählt – neben Marine Le Pen (23 Prozent), Eric Zemmour (7 Prozent) und Jean-Luc Mélenchon (20 Prozent). Am Abend des 10. April spricht Le Pen von der Wiederherstellung „nationaler Unabhängigkeit.“

Im Januar hatte Le Pens Partei eine Wahlkampfbroschüre in Millionenauflage eingestampft. Der Grund: Die Parteichefin war darin bei einem freundschaftlichen Treffen mit Wladimir Putin zu sehen. Es ist bekannt, dass der russische Diktator den Front National bzw. Rassemblement National finanziell unterstützt. Gerüchte besagen, MLP stehe auch persönlich bei Putin in der Kreide.

Könnte Frankreich sich vom Westen abwenden?

Ein Sieg Le Pens würde die Zeitenwende 2022, das Ende der Ordnung von 1945/89 zementieren. Mit Frankreich würde eine Siegermacht von 1945, Gründerin der Europäischen Union, Gründungsmitglied der Nato, Vetomacht der UN und Atommacht dem Westen den Rücken kehren. Und sich womöglich mehr oder weniger Moskau zuwenden.

Anders ausgedrückt: Der Trumpismus wäre ins Herz Europas eingefallen. Zu einem Zeitpunkt, da der Trumpismus in seinem Heimatland immer noch nicht endgültig geschlagen ist.

Eingekreist von zwei unfreundlichen Atommächten im Osten und Westen wäre bei einem Sieg Le Pens auf einen Schlag Deutschland. Mit ihm die anderen Staaten Mittel-, Nord- und Osteuropas, die gerade seit dem 24. Februar all ihre Hoffnung auf die Nato und ihren Schutzschirm gegen das aggressive Russland gerichtet hatten.

Neue Fragen an Berlin

Ein Sieg Le Pens würde neue Fragen auch an die Zeitenwende Olaf Scholz‘ vom 27. Februar stellen. Die Bundesrepublik müsste in der EU und Kontinental-Westeuropa neben der ökonomischen auch die militärische Führungsrolle übernehmen, die bislang bei Frankreich liegt. Deutschland müsste die politisch-militärische Kooperation mit den USA und Großbritannien in der Nato und darüber hinaus auch mit Israel weiter intensivieren.

Am Pariser Platz in Berlin. 31. Oktober 2021. Foto: Frank Behrens
Am Pariser Platz in Berlin. 31. Oktober 2021. Foto: Frank Behrens

Die militärische Kooperation mit Israel hat sich im Windschatten des Ukraine-Kriegs ohnehin bereits weiter entwickelt. Deutschland liefert seit vielen Jahren moderne U-Boote der Dolphin-Klasse an Israel; es gilt als offenes Geheimnis, dass Israel diese Boote mit nuklear bestückten Marschflugkörpern ausstattet und die Boote somit als strategische Waffe nutzt.

Deutschland betreibt israelische Leasing-Drohnen des Typs Heron ¬– seit dem Ukraine-Krieg werden sie bewaffnet. Und mittlerweile haben Israel und die USA zugestimmt, ihr Arrow-3-Raketenabwehrsystem an Berlin zu liefern. Die Bundesrepublik will damit einen Raketenschirm über Mitteleuropa spannen – zum Schutz vor russischen Atomraketen. Müsste dieser Schirm im schlimmsten Fall nun auch vor französischen Raketen schützen?

Noch besteht die Chance, dass das Worst-Case-Szenario am 24. April nicht eintritt. Die Entscheidung fällt anders als im Juli 1914 in Paris.

Frank Behrens

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