Lesen, lesen, lesen

Über das Lesen, eine Autofahrt nach Bayern, Sebastian Guggolz und  Gaito Gasdanow, George Orwell und Zoë Beck.

Autofahren ist eine wenig nachhaltige Beschäftigung. Und nicht ganz ungefährlich obendrein. Aber es gibt ja das Radio. Und den Deutschlandfunk Kultur. Bei unserer Fahrt in den Urlaub Ende August, es ist schon eine Weile her, also wir befanden uns aus dem Thüringer Wald kommend gerade auf Höhe der bayerischen Staatsgrenze, war Sebastian Guggolz im Studio von DLF Kultur zu Gast. Guggolz ist Verleger und Gründer des Guggolz Verlages in Berlin. Ich hatte nie zuvor von ihm gehört.

Er berichtete von seinem interessanten Ansatz: Bücher verlegen von verstorbenen Autoren, und zwar konkret von solchen Texten, an denen keine Rechte mehr bestehen. Aus dieser Prämisse hat Guggolz ein erfolgreiches und bisweilen erstaunlich aktuelles Verlagsprogramm gebaut. Paradebeispiel ist der Roman „Die Stadt“ des ukrainischen Autors Walerjan Pidmohylnyj (1901-37), der zu Beginn dieses Jahres bei Guggolz neu erschien.

Das Phantom des Alexander Wolf

Sebastian Guggolz hat an dem Tag, an dem er auch sonst recht gesprächig war,  aber noch einen Tipp verraten: unbedingt den Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“ von Gaito Gasdanow lesen! Es sei einer der besten jemals erschienen Romane, so Guggolz.

Der Tipp war auch deshalb so glaubwürdig, weil Gasdanows Roman nicht etwa in seinem eigenen Verlag auf Deutsch erschienen ist, sondern bei Carl Hanser und als Taschenbuch bei dtv. Die Argumentation war so durchschlagend, so einleuchtend, dass ich den Namen Gaito Gasdanow und den Titel des Romans eigentlich sicherheitshalber zusätzlich bei meiner auf dem Beifahrersitz mitfahrenden Frau „parken“ wollte. Ich musste ja fahren. Durch ein Mittelgebirge mitten in Deutschland. Irgendwo zwischen Thüringen und Bayern. Leider entschlummerte sie just zu diesem Zeitpunkt ein wenig auf dem warmen Beifahrersitz.

Aber – mir ist es trotzdem gelungen, die Namen und Titel bei mir zu behalten, so dass ich den schlanken Roman Gasdanows, keine 200 Seiten stark, im russischen Original 1948 in Paris erschienen, inzwischen längst gelesen habe. Kurz: Die Handlung, schon die Ausgangssituation ist so ungewöhnlich, dass ich das Buch kaufen musste. Und es enttäuschte mich beim Lesen nicht im Geringsten. Zur einmaligen Handlung kommt eine ungeheuer elegante Sprache, die selbst noch in der deutschen Übersetzung von 2012 glänzt. So lange hat es nämlich gedauert, bis dieses großartige Buch endlich auch auf Deutsch erschien.

Dabei hat Gasdanow, ein russischer Exilant und ehemaliger Weißgardist, der sich im Paris der Zwischenkriegszeit als Journalist und Taxifahrer durchschlagen musste, in der Nachkriegszeit längere Zeit in München verbracht – als Mitarbeiter von Radio Liberty. Radio Liberty, der US-Radiosender im Kalten Krieg mit Fokus auf die Sowjetunion hatte – ältere Münchner:innen werden es noch wissen – seinen Sitz am Englischen Garten unweit des Chinesischen Turms.

Das Buch, das ich dringend weiterempfehlen möchte, konnte ich natürlich erst nach unserem Italienurlaub lesen. Im Urlaub hatte ich dabei: Zoë Beck – Das falsche Leben und George Orwell – 1984.

George Orwells Dystopien

1984 habe ich neu gelesen. Aus Neugier, wie ich heute auf diese klassischste aller Dystopien reagieren würde. Ich hatte mir dazu eine der gerade zahlreichen Neuausgaben in neuer Übersetzung besorgt. Denn auch Orwell ist wie die Autoren Guggolz’ lange genug tot, um nunmehr rechtefrei verlegt zu werden.

Zwei Neuausgaben von George Orwell: "Farm der Tiere" (Nikol) und "1984" (Anaconda). Foto: Frank Behrens
Zwei Neuausgaben von George Orwell: “Farm der Tiere” (Nikol) und “1984” (Anaconda). Foto: Frank Behrens

Meine Ausgabe ist aus dem Anaconda-Verlag, die Übersetzung hat Jan Strümpel besorgt. Er lehnt sich im Prinzip recht eng an die klassische deutsche Übersetzung an, übersetzt aber einige Schlüsselbegriffe wie das dauerpräsente Überwachungsgerät zeitgemäßer. Hatte Kurt Wagenseil Anfang der fünfziger Jahre den deutschen Lesern (und Leserinnen) noch den „Televisor“ vorgestellt, so ist das bidirektionale Gerät nun schlicht ein „Monitor“. Insgesamt bleibt die Orwell’sche Diktatur-Dystopie auf Distanz zu heutigen autoritären Regimen in Moskau oder Teheran. Die Brutalität ist eher technologisch – im Rahmen der Zeit selbstverständlich und in gewisser Weise rechthaberisch. Stärkere Parallelen sehe ich zur Volksrepublik China, das in den vergangenen Jahren die Corona-Pandemie dazu nutzte, die eigene Bevölkerung datentechnisch flächendeckend bis in Mund- und Nasenhöhle zu durchdringen. Und das Tag für Tag.

Um das Orwell’sche Erlebnis abzurunden, habe ich nach dem Urlaub übrigens gleich noch die „Farm der Tiere“ nachgeschoben, auch in neuer Übersetzung. Anders als die meisten meiner Alterskolleg:innen habe ich das Büchlein, in dem der Sozialist Orwell den Stalinismus mittels einer Tierfabel kritisiert, nie in der Schule zu Gesicht zu bekommen. Auch hier las ich eine Neuausgabe – aus dem Nikol-Verlag, übersetzt von Simone Fischer.

Zoë Beck – dystopische Science Fiction und ein Kriminalroman

Jetzt zu Zoë Beck. 2020 hatte ich im Sommer ihren dystopischen Near-Future-Science-Fiction-Roman „Paradise City“, damals fast druckfrisch, gelesen. Und war begeistert. Niemand brachte für mich die Situation in der Pandemie mit bevorstehendem Klimakollaps so auf den Punkt wie Beck. Nach wie vor eine dicke Leseempfehlung. 2021 folgte „Die Lieferantin“ von 2017, ein Blick auf die Schattenseiten Londons, konkret auf das Drogenmilieu und insbesondere den Handel mit diesen Stoffen. Und die Träume, die der lukrative Handel – immer nur zeitweise – ermöglicht. Ein bisschen Near-Future-Science-Fiction liefert auch die „Lieferantin“, aber nur wohldosiert. Wie ein guter Rausch ohne Reue es auch sein sollte.

Drei Buchcover von Zoë Beck: "Paradise City", "Das falsche Leben" und "Die Lieferantin", alle bei Suhrkamp erschienen. Foto: Frank Behrens
Drei Buchcover von Zoë Beck: “Paradise City”, “Das falsche Leben” und “Die Lieferantin”, alle bei Suhrkamp erschienen. Foto: Frank Behrens

Im Spätsommer 2022 nun „Das falsche Leben“, eine Neuausgabe von „Wenn es dämmert“ von 2008. Beck beweist hier, dass sie schon als relativ junge Autorin das Einmaleins des Kriminalromans, dieser ist in Schottland lokalisiert, beherrschte. Handwerklich gut gemacht, spannend zu lesen. Aber nicht mit dem inspirierenden Potenzial wie „Paradise City“.

Fünfzig Kilometer vor München war ich dann durch mit der Fahrerei. Deutschlandfunk Kultur hatte ausgesendet, Sebastian Guggolz war längst verstummt. Bayern Drei mit seinem Verkehrsfunk tat nun not. Schafe auf der A9 in Höhe Garching. So die Aussicht. Dichter Verkehr, Unwetter und das Einerlei der Autobahn nötigten mich das Steuer an meine ausgeruhte Mitfahrerin zu übergeben. Die uns sicher in die von einem Wolkenbruch heimgesuchte bayerische Metropole steuerte. Ein Schaf bekamen wir nicht zu Gesicht.

Frank Behrens

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