„Verschwurbelte Rhetorik“

Wir leben in Zeiten multipler Krisen. Diese Krisen wirken sich auf unsere Sprache aus. Schon kurzfristig. Ein Beispiel aus der Politik.

Sicher keine Überraschung: Ich lese mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Texter-Seminare zahlreiche Texte. Vor allem journalistische, auch viele Meinungstexte. Darunter war zuletzt auch immer eine Kolumne von Heribert Prantl aus der Süddeutschen Zeitung vom 4./5. Mai 2019. Also gerade mal zweieinhalb Jahre alt. Der Titel des Stücks, das eigentlich eine Art Leitartikel ist: „Merkels Finale“.

So jedenfalls in der damaligen gedruckten Ausgabe. Interessant, dass der Text online mittlerweile etwas holprig-einfallslos „Merkel ist ein Vorbild an Pflichterfüllung“ übertitelt ist. Worauf deutet das hin? Erstens darauf, dass Online-Redaktionen, selbst die der arrivierten Verlage und Titel, nicht immer brillante und kreative Überschriften schaffen. Quod erat demonstrandum.

Müntefering bringt es auf den Punkt

Zweitens sicherlich auch darauf, dass seit dem Frühjahr 2019 noch eine ganze Menge in Merkels finaler Amtszeit geschehen ist. Wie überhaupt jede Merkel’sche Legislatur offenbar eine globale Krise mit sich bringt. Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering brachte es unlängst bei einem Talkshow-Auftritt im ZDF auf den Punkt: „In der ersten Periode von Merkel: Weltfinanzkrise, in der zweiten ging das Atomkraftwerk hoch in Japan, in der dritten kamen 1,5 Millionen Flüchtlinge, in der vierten war Pandemie.“

Warum die größte der Krisen, die Klimakrise, in dieser Aufzählung nicht vorkommt, muss Teil einer eigenen Abhandlung bleiben.

Die Corona-Pandemie jedenfalls ist ein Ereignis, das Prantl im Mai 2019 nicht voraussehen konnte. Und doch wird diese Pandemie das Bild der 16jährigen Kanzlerschaft in den Geschichtsbüchern nicht unwesentlich mitprägen. In positiver wie negativer Hinsicht. Zu welcher Seite das Pendel letztendlich ausschlagen wird, können wir selbst heute, wenige Wochen vor Merkels tatsächlichem Finale, immer noch nicht genau beurteilen.

Ein Teilnehmer meines letzten Seminars wies mich jüngst auf ein interessantes Detail in Prantls Kolumne hin. Im vierten Absatz ist zunächst von Helmut Kohl die Rede, der bereits in seinen letzten Jahren im Amt an seinem Denkmal gearbeitet habe:

„Diese Art von Monumentalität ist Merkels Sache nicht. Sie macht, was sie immer gemacht hat: Sie regiert, sie tut es fleißig, manchmal schlecht, manchmal recht, aber immer zuverlässig und mit der Detailakribie, die sie auszeichnet, und der verschwurbelten Rhetorik, die sie kennzeichnet. Die ist heute sogar weniger schwurbelig als früher. Und sie genießt in der Bevölkerung noch immer guten Rückhalt, mehr als damals Adenauer und Kohl.“

„Schwurbelig“

Dem Teilnehmer war aufgefallen, dass Heribert Prantl der Kanzlerin eine „verschwurbelte Rhetorik“ unterstellt. Und war der Meinung, dass dies doch erstaunlich sei. Schließlich sei Angela Merkel die Hauptzielscheibe der Querdenker- und Coronaleugnerszene. Ich musste meinem Teilnehmer Recht geben. Heute würde der SZ-Redakteur in Zusammenhang mit der amtierenden Bundeskanzlerin kaum mehr von Schwurbelei schreiben. Der Grund ist offensichtlich und beweist zugleich wie lebendig die deutsche Sprache allen Unkenrufen zum Trotz immer noch ist.

So lebendig, dass nach knapp zwei Jahren Pandemie die Schwurbelei heute als Synonym für die verquere, zunehmend aberwitzige Argumentation der Querdenker- und Coronaleugnerszene gilt. Undenkbar, eine unaufgeregt arbeitende Langzeit-Bundeskanzlerin geringer rhetorischer Begabung mit dieser Vokabel zu belegen. Im Mai 2019 ging das noch ohne Probleme. Quod erat demonstrandum.

Frank Behrens

2 Antworten auf „„Verschwurbelte Rhetorik““

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