2022. Eine Zeitreise. Am letzten Tag des Vorjahres macht die Nachricht die Runde, Betty White sei gestorben. Am 17. Januar 2022 wäre das ehemalige „Golden Girl“ 100 geworden. Ein stolzes Alter. Betty White ist mir erst seit dieser Todesnachricht ein Begriff. Meine Großmutter wäre in diesem Jahr auch 100 geworden, am 14. Mai 2022. Leider ist sie bereits fast auf den Tag genau 22 Jahre tot. Sie starb am 13. Januar 2000. Plötzlich und unerwartet, wie es in Todesnachrichten und -anzeigen gerne mal heißt.
Meine Oma war eine Frau alter Art. Mit dem Tod ihres Mannes im Frühjahr 1995 – er war fast 13 Jahre älter als sie – schien sie jeden Lebensinhalt verloren zu haben. Wen sollte sie noch bekochen? Selbst wenn ich sie aus Berlin kommend in diesen Jahren ab und zu am Wochenende auf dem Dorf im Holsteinischen besuchte, fand sie nicht zurück zu alter Form. Am Ende musste ich ihr zeigen, wie man Frikadellen brät. Ihr, die wohl rund fünf Jahrzehnte lang eine Familie bekochte, zeitweise sechs, sieben oder acht Köpfe stark. Man sagt in solchen Fällen gerne, sie sei verblüht. Bei meiner Oma hatte ich tatsächlich diesen Eindruck.
Betty White war nach allem, was ich jetzt über sie gelesen habe, das Gegenteil meiner Großmutter. Eine selbstbewusste, emanzipierte, engagierte Frau.
So unpolitisch, dass es ein Politikum war
Meine Oma war all das nicht. Sie war völlig unemanzipiert und unpolitisch. So unpolitisch, dass es schon wieder ein Politikum war, bei dieser Generation zumal. Und doch oder gerade deswegen ist das Ableben meiner Großmutter vor bald einem Vierteljahrhundert für mich eine Zäsur. Ich habe das lange nicht realisiert.
Sie war in unserer erweiterten Familie der Nachkömmling der Kriegsgeneration. Ehemann, Geschwister, Schwager, die Eltern meines Vaters – sie alle waren mindestens zehn Jahre älter, zum Teil noch deutlich mehr. Meine Großmutter war mithin bei uns die letzte ihrer Art. Die letzte, die man noch fragen konnte.
Oder beschuldigen. Gegenüber meinem Vater ist meiner Großmutter in Bezug auf die Nazityrannei einmal der törichte Satz durchgerutscht, das sei „eben die Zeit gewesen.“ Ein Satz, der meinen Vater zu Recht über seine Schwiegermutter auf die Palme brachte.
Woher die Maßlosigkeiten?
Und doch bleibt heute das Gefühl, dass da niemand mehr ist, den man fragen kann. Die Kriegsgeneration ist gestorben. Man redet nicht mehr mit ihr, man redet über sie. Und meist nicht gut. Ist diese Generation nicht diejenige, die in jungen Jahren die Welt anzündete und sich in mittleren Jahren über kurze Röcke und lange Haare echauffierte? Was brachte diese oft nicht sehr selbstsicheren Persönlichkeiten zu diesen Maßlosigkeiten?
Ich würde gerne noch einmal mit meiner Oma darüber reden. Wenn ich auch weiß, dass es zu nichts führte. Es bleibt nur das Mutmaßen über diese Generation, die die Welt ins Verderben stürzte. Eine Zeitreise gibt es auch 2022 nicht.
Pandemien
Manchmal würde ich mit diesen Menschen, die die Katastrophen und Grausamkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch persönlich erlebten, auch über unsere Gegenwart sprechen. Was würden sie zur Pandemie, die uns seit zwei Jahren in Atem hält, sagen?
Zum Beispiel mein Opa, Jahrgang 1909. Er muss die Spanische Grippe als Kind an der Hamburger Peripherie noch erlebt haben. Hätte er etwas sagen können? Oder ging 1918 bis 1921 alles in Kriegs- und Nachkriegswirren unter? Glaubt man der Geschichtsschreibung, die selbst die Spanische Grippe erst seit kurzem wieder auf dem Schirm hat, stand die Pandemie mit ihren geschätzten 100 Millionen Todesopfern im Schatten des Weltkrieges. Eines Krieges, dessen Stahlgewitter „nur“, ich muss das in Anführungszeichen setzen, 10 bis 20 Millionen Menschenleben kosteten.
Zeitreise 2022
So oder so wurde in diesen Jahren eine ganze Generation zu maßgeblichen Teilen ausgelöscht oder verkrüppelt. Ich würde meinen Großvater wirklich gerne auch einmal zur Spanischen Grippe fragen. Leider bin ich zu seinen Lebzeiten nie auf diese Idee gekommen. Dabei hat er gerne und viel aus den alten Zeiten erzählt. Aber es waren seine alten Zeiten. Und wir sprechen jetzt über ihn. Und seine Frau. Und Betty White.
Du hast es auf den Punkt gebracht….ich möchte auch oft mit meinem Papa, gestorben 1974, geboren 1918 … über seine Erlebnisse reden….über seine Zeit als Soldat…über Russland….seine Verletzung im Krieg…. geht leider nicht mehr…. was würde er zu den heutigen Coronazuständen sagen….ich denke, er würde fassungslos sein, dass so Viele ihre Energien vergeuden, um ein bestehendes !!!! weltweites, pandemisches !!!! großes Problem “ignorieren” zu können und gegen !!!! alle Versuche, dieses “Problem” zu lösen, auch noch auf die Straße gehen….schlimm, wenn man bedenkt, dass unsere Väter/ Omas ECHTE Probleme hatten…..
Manchmal bin ich froh, dass er das nicht mehr erlebt…..und ich bin auch traurig, dass ich zu Lebzeiten meines Vaters nicht mehr Probleme angesprochen habe…man mag mir verzeihen, ich war 15, als er starb….
Und last but not least…ich mag und mochte immer schon (golden girls) Betty White
Danke für Deinen Kommentar! Ich hab’ die “Golden Girls” nie geguckt, daher kannte ich Betty White nicht… 😉 Aber ich kann sehr gut verstehen, was Du sagst. Mein Opa hat über seine Zeit im Krieg, in Frankreich und Russland übrigens sehr viel erzählt. Aber es war natürlich seine Perspektive. Die ich als Kind nicht hinterfragt habe. Als ich älter wurde, wurde er insgesamt stiller und mit seinen Geschichten auch zurückhaltender. So habe ich es in Erinnerung.