Eigentlich wollte ich nichts dazu schreiben. Jetzt mache ich’s doch. Als Feld-Wald-und-Wiesen-Journalist bin ich doch etwas verwundert über den Spiegel-Skandal rund um Claas Relotius.
Bewusst gelesen habe ich eine einzige Geschichte von Relotius: „In einer kleinen Stadt“ – das grob verfälschende Porträt der US-Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota, erschienen im März 2017. Das Stück bediente noch die dümmsten Vorurteile gegenüber amerikanischen Kleinstädten im Mittleren Westen. Das fiel mir in der Tat bereits auf, als ich den fürchterlich langen Text las. Ein bisschen ungläubig war ich zwar. Wusste auch, dass Minnesota zwar ländlich ist, aber nicht unbedingt reaktionär wie vielleicht manch anderer Landstrich in der Einöde des „Middle West“. Sagte mir aber, das wird schon so stimmen. Schließlich ist das der Spiegel und der Autor war ja vor Ort.
Und das ist eigentlich das Schlimmste aus heutiger Sicht. Relotius war tatsächlich vor Ort. Angeblich sogar drei Wochen. Da frage ich mich natürlich: Wie kann er an der Realität im Ort derart vorbei gelaufen sein? Was hat er die drei Wochen dort gemacht? Er hat die Wirklichkeit bewusst nicht an sich herangelassen. Er hat sie weggestoßen, weil sie ihm nicht ins Konzept passte.
Im Grund erschien mir die Entschuldigung des Spiegel plausibel, dass Reportagen wie die von Relotius nur bedingt von der berühmten Spiegel-Dokumentation überprüfbar seien. Denn vieles, was ein individueller Reporter vor Ort erlebt, kann nur er wissen. Die Redakteure zu Hause müssen einfach vertrauen. Einerseits stimmt das.
Andererseits sind die Lügen, die Relotius konkret in diesem Stück auftischt, so eklatant und offensichtlich, dass sie der Dokumentation hätten auffallen müssen. Der Eastwood-Film, der eben im Frühjahr 2017 im Kino von Fergus Falls bereits zwei Jahre abgesetzt war und nicht in Dauerschleife lief. Das Kraftwerk, das nur einen Schlot und nicht drei besitzt. Das schlichte Ortsschild von Fergus Falls, das anders als bei Relotius ohne Eigenlob auskommt. Die nicht gegrillten Rinderhälften. Die erfundenen Geschichten rund um das mexikanische Restaurant. Das nicht vorhandene Schild „Mexicans keep out“.
Bei einer Story, die so sehr die Klischees bedient, würde ich hier irgendwo eine Stichprobe der Dokumentation erwarten. Offensichtlich hat sie nicht stattgefunden. Die Doku blieb tatenlos. Claas Relotius genoss Narrenfreiheit. Beim Spiegel und darüber hinaus, wie die zahlreichen Preise und Auszeichnungen, die er in den vergangenen Jahren für seine „Reportagen“ einheimsen konnte, bezeugen.
„Kino im Kopf“ um jeden Preis
Der Erfolg lag ohne Frage am blumigen, literarischen Erzählstil des Autors. Den „Reportagen“ fehlt, wie wir heute wissen, jeder nachrichtliche Kern. Aber sie lagen und liegen im Zeitgeist. Der sieht in Reportagen die Königsdisziplin des Journalismus. Und fordert, dass beim Leser und der Leserin bitteschön „Kino im Kopf“ entstehen soll. Eine Prämisse, die Relotius konsequent befolgte. Ohne Rücksicht auf Fakten. Relotius erzählte einen vom Pferd.
Otto Normaljournalist, dem auch schon mal die 20 Euro für eine Anreise zu einem Interview von seinen Auftraggebern nicht ersetzt wurden, kann sich nur wundern, wie willig sich das führende Nachrichtenmagazin des Landes hinters Licht führen ließ für den schönen Schein. Claas Relotius weilte auf Verlagskosten drei Wochen in der amerikanischen Provinz. Und saß seine Zeit nur ab, nutzte den Aufenthalt lediglich als Vorwand, authentisch berichten zu können. Fergus Falls fungierte wie eine Muse. Frank Behrens