Mittags bei Rewe. Die Schlange an der Kasse wird länger. Eine überforderte, offensichtlich neue Kassiererin. Migrantischer Hintergrund. Sie kennt die Preiscodes für Gemüse und Backwaren noch nicht. Eine grauhaarige Frau mittleren Alters hinter mir wispert zunehmend genervt. Ohne Unterlass.
Nach einigen Minuten naht Rettung in Person des Kassierers, der sie scheinbar auch einarbeitet. Er erwähnt gegenüber den ungeduldigen Kunden, dass sie gerade einen Ladendieb zu überwältigen hatten. „Kein Ausweis, keine Aufenthaltsgenehmigung“, fügt er noch hinzu. Die wispernde Dame ist nun in ihrem Element: „Das kommt davon, wenn man die alle reinholt!“ Während ich das hören muss, zahle ich gerade meine Einkäufe. Meine Entgegnung, schon im Gehen, dass sie es sich nicht so einfach machen sollte, gefällt ihr nicht. Die neue Kassiererin schweigt. Was soll sie auch sagen?
Dass es angesichts solcher Alltagsszenen in Deutschland für viele Politiker verlockend sein muss, dem allgemeinen Unmut der sonst schweigenden Mehrheit gegen Migranten Zucker zu geben, überrascht leider kaum. Erst recht nicht, dass dies in der CDU geschieht. Der Partei, die sich gerade anschickt, das erste Mal in ihrer Geschichte einen neuen Vorsitzenden – oder eine neue Vorsitzende – per offener Kampfkandidatur zu bestimmen.
„Polygamie und Inzest“
Die Kandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer, ehemalige saarländische Ministerpräsidentin und aktuelle CDU-Generalsekretärin, besetzt nominell die „linke“, aufgeklärte Rolle im Dreikampf der KandidatInnen. Okay, ihr fällt zur Ehe für alle zuerst Polygamie und Inzest ein, das weiß man schon seit drei Jahren, aber wenn schon nicht gesellschaftspolitisch, so ist die Katholikin und Exponentin des Merkel-Flügels doch wenigstens sozialpolitisch bezogen auf das Koordinatensystem der Union eine „linke“ Kandidatin. Migrationspolitisch machte sie gleich zu Beginn ihrer Kandidatur um den CDU-Vorsitz klar, dass sie bei diesem Thema Härte zu zeigen gewillt ist. So kündigte sie schon einmal prophylaktisch an, dass über den „Herbst 2015“, der sich nicht wiederholen dürfe, in der Partei noch zu diskutieren sein werde.
Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister und ein Konservativer neuen Schlags, gut Freund mit Trumps Berliner Botschafter Richard Grenell, der gleich zu Amtsantritt angekündigt hatte, die politische Rechte in Europa stärken zu wollen, ist der offensichtliche Außenseiter im Kandidatenrennen. Er kokettierte, erwartungsgemäß ist zu sagen, mit der AfD-Forderung, den UN-Migrationspakt nicht wie geplant durchzuwinken, sondern ihn auf dem CDU-Parteitag am 7. Dezember in Hamburg, auf dem auch der neue Chef (oder die neue Chefin) gewählt wird, zur Debatte zu stellen. Zwar sei mit dem Migrationspakt vermutlich alles in Ordnung, so die doppelbödige Argumentation des nicht mehr ganz jungen CDU-Rechten mit JU-Charme, aber es gäbe viele Fragen und über die solle man diskutieren.
Unausgesprochen steht hier wieder einmal ein angebliches Diskussionstabu im Raum, das von der neuen Rechten wie das Amen in der Kirche bei jedem Konflikt ins Feld geführt wird. Was es aber auch nicht richtiger macht. Der Spahn-Freund Sebastian Kurz, jungkonservativer Koalitionspartner der FPÖ und österreichischer Bundeskanzler, hat den Migrationspakt wie US-Präsident Donald Trump und Ungarns Premier Victor Orban abgelehnt – mit dem Argument, er würde die Souveränität Österreichs einengen. Das gefällt einem wie Spahn.
Zwei Wochen Kreidefressen
Bleibt Friedrich Merz, Konservativer alten Schlags und seit spätestens 2009 (eigentlich 2004) Politik-Flüchtling. Merz hat seit dieser Zeit seine Politkontakte nutzbringend für seine Kariere in der Finanzbranche eingesetzt. Sich ein kleines Millionenvermögen erworben und zwei kleine Privatflugzeuge – wenn auch keine Jets – vom Munde abgespart. Unter anderem ist der ehemalige Hoffnungsträger der „CDU Deutschlands“, wie die Partei sich gerne selber nennt, Aufsichtsratschef der deutschen Dependance des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock und des Flughafens Köln/Bonn. Hier verbindet sich Neues mit Altem, möchte man fast sagen. Merz ist in der CDU eine Legende, seine Steuer, die auf einem Bierdeckel zu machen sein müsste, ist unvergessen. Dass auch anderes unvergessen ist, etwa der Finderlohn für seinen 2004 am Berliner Ostbahnhof verlorenen Laptop, kam erst später raus.
Zunächst wurde Merz gefeiert. Von vielen großen Medien, von seiner CDU. Er war der Favorit, auf den alle scheinbar nur gewartet hatten. Doch nach zwei Wochen Kreidefressen und immer lauter werdenden Geschichten um seinen wirtschaftlichen Erfolg in der Finanzbranche und die ein paar Jahre zurückliegenden Cum-Ex-Geschäfte von Blackrock, hatte wohl auch Merz das Gefühl, jetzt mal etwas raushauen zu müssen. Das geht am einfachsten, indem man nach ganz unten austeilt, dahin, wo eh keiner wählen darf. Also sprach Merz, er sei schon lange Zeit der Meinung, dass „wir“, er sagte wirklich „wir“, über das Grundrecht auf Asyl „reden müssten“. Merz wurde sowohl inhaltlich widerlegt als auch moralisch kritisiert. Sogar aus den eigenen Reihen, sogar vom (nicht ganz) jungen Rechten Spahn. Er relativierte seine Aussagen am nächsten Tag. Offenbar war Merz besonders ungeschickt darin, den Hardliner und den härtesten Bruch mit der Merkel-Linie zu markieren.
Der Lohn für den damals obdachlosen Finder von Merzens Laptop 2004 war übrigens sein Buch „Nur wer sich ändert, wird bestehen: Vom Ende der Wohlstandsillusion – Kursbestimmung für unsere Zukunft“ – schon 2004 kein Bestseller. Er habe das Buch sogleich in die Spree geworfen, erinnerte sich der ehrliche Finder nun gegenüber der Berliner taz. Aber auch dem Pöbel Zucker zu geben will gelernt sein. Frank Behrens